Donnerstag, 5. Januar 2017

Zustandsbericht


Ein neues Jahr hat begonnen und ich habe das Gefühl, als würde ich in den ersten dreißig Minuten eines Filmes stecken: die Personen wurden vorgestellt, die ersten Dialoge haben erste Charakteristiken und Konflikte dargelegt, der Protagonist ist dabei, die Handlung für den Film zu entpacken und langsam ist der rote Faden erkennbar, der Zuschauer ist gepackt, neugierig, gespannt.
Aber ich bin gleichzeitig der Zuschauer und der Protagonist.
Und da liegt der Konflikt dieses Filmes, den ich schaue, der mein Leben ist.

Das letzte Jahr war ein Sieb.
Es hat mich geschüttelt und ausgequetscht, bis all das Hässliche, das Schreckliche, das Depressive und das Schwache im Ausguss verschwand. Im Sieb blieb ein Selbst, das liebt und glaubt.
Und dann war meine Welt für einen kleinen Augenblick rosa und rot.

Doch jetzt hat ein neues Jahr begonnen und ich habe das Gefühl, wichtige Entscheidungen treffen zu müssen.
Irgendwas zu tun, denn es ist 2017 und ich bin 18 und das sind alles Zahlen, die dicke Ausrufezeichen hinter meine Träume setzen.
Kaum habe ich die Farben gefunden, die zu mir passen, schon muss ich mir mein Leben malen, und zwar plastisch und schattiert, denn ich mache keine halben Sachen.
Das Bett, in dem ich liege, ist 1,40m breit.
Und ich denke an Weltreisen.
Ich lese von Ungerechtigkeiten, von Terroristenanschlägen, von Flucht und Krieg, von Korruption und Tierpest, und jedes Wort nagelt sich in meinen Kopf.
Wohin mit all dem Leid?
Das hat sich Buddha auch gefragt.
Aber soll ich jetzt Buddhist werden? Oder soll ich die Welt retten? Soll ich Schlips tragen und in die Politik gehen? Oder soll ich mir Blumen aufs Auto sprayen und Decken an Obdachlose verteilen?
Soll ich morgens um sechs Yoga machen oder abends um zehn Bücher schreiben?
Was soll dieser Mensch tun, der in mir wohnt, wofür ist er gut in dieser Welt?
Soll ich mich für die Tiere engagieren oder für die Menschen? Für die Kranken oder für die Armen? Für die, die sich physisch im Krieg befinden oder die, die sich psychisch im Krieg befinden?
In mir hausen Sorgen, so viele Gedanken, was ich mit meiner Zeit anfangen kann.
Und die Gedanken, die irgendwann obdachlos sind, die gieße ich in Tassen, bis sie voll sind, und stelle sie in meinen Schrank, bis er voll ist, und dann kaufe ich mir einen neuen Schrank von dem Geld, mit dem ich Kinder in Afrika retten könnte.
Das Bett, in dem ich liege, ist 1,40m breit.
Viele Menschen haben kein Bett.
Ein neues Jahr hat begonnen und ich habe das Gefühl, machtlos zu sein.
Machtlos trotz aller Macht.

Mein Herz wohnt überall, deshalb kann ich ihm nicht folgen.

Australien ist immer noch eine Sonne, die in mir scheint und mich mit Energie versorgt, damit ich eines Tages dorthin zurückkehren kann, an die Orte, an denen ich mit 15 Jahren in meinen hellsten und dunkelsten Momenten gelacht und geweint habe.
Ich sehne mich danach, mit diesem Kapitel abzuschließen, was ich am 20. Januar 2014 am Flughafen lassen musste.
Ich muss die Seiten aufsammeln, die in Perth verteilt sind, auf den Steinen der Brandung in Hillarys, oder auf dem Parkplatz in Joondalup, oder auf den Sesseln im Whitfords Shopping Center.
Geschichten, die ich neu erleben möchte, die ich neu erleben muss.
Mein Lebenslauf bisher ist nicht eine gerade Linie. Sie ist unterbrochen, verschwunden in Teilen, in die Irre führend - wären meine 18 Jahre ein Buch, dann wären die letzten drei Jahre zerfledderte Kapitel, ausgerissene Zeiten, schwarz ausgemalte Papiere und ausgewaschene Buchstaben.
Ich muss zurück, um die Seiten aufzusammeln und zusammenzuheften.
Es fehlen mir Gefühle, die ich nur dort fühlen kann, ich muss die letzten Risse heilen lassen, während ich in die untergehende Sonne schaue und meine Füße in den Sand grabe, genau wie damals, mit 15.
Seit einigen Wochen wandere ich in meinem Kopf oft zurück in den Süden und lasse mich treiben, und seit einigen Wochen überraschen mich Tränen, echte Tränen, wenn ich die Bilder an mir vorbeiziehen lasse.
Ich bin nicht traurig. Ich bin sehnsüchtig.
Nach Frieden vielleicht?
Nach einer Wiedervereinigung?
Gespart habe ich wie eine Verrückte das letzte Jahr und stecke schon in den nächsten Planungen für einen Wochenendjob, Sponsoren, Hunde ausführen, Opas Schuhe polieren, Nachbars Rasen mähen, Großcousine's Haus streichen, Schwippschwager's Kiosk leiten.
Doch es gibt immer einen Haken. Immer eine Grenze, und ich dachte für einen Moment, Australien wäre nur noch zwei Jahre entfernt.
Wenn es doch nur die Zeit wäre.
Ein neues Jahr hat begonnen und ich fühle mich müde.

Doch wäre ein Leben bloß Sand am Meer, so wäre ich trotzdem das glücklichste Sandkorn des Strandes.

Denn es sind immer Früchte im Haus, und Brot, und das Wasser aus dem Wasserhahn kann man trinken, ohne ins Krankenhaus zu müssen, und das einzige am Himmel sind Vögel und Passagierflugzeuge, die reisende Menschen zu ihren nächsten Zielen bringen, während sie die Wolken betrachten, als wären es lauter kleine, puffige, süße Sahnehäufchen auf einem großen Pudding.
Und ich werde aufgeweckt von einem Kuss auf die Stirn, gefolgt von einem Ich liebe dich.
An mich wird gedacht, wenn die Menschen schlafen gehen, die mich lieb haben.
Ich rufe an und werde angerufen in Zeiten von Trauer und Ratlosigkeit.
Das alles ist nicht selbstverständlich.
Mein Haar darf ich offen tragen, gelockt oder geglättet, braun, rot oder violett, und ich darf sowohl einen Pullover als auch ein ärmelloses Shirt tragen, und ich darf zur Schule gehen, sogar fahren mit dem Auto, auf Straßen, die gerade erst neu gepflastert sind von der Gemeinde, die sich um Integration kümmert und um gerechte Lohnverteilung und um Altenpflege.
Das alles ist nicht selbstverständlich.
Ich möchte mich nicht in Wohlgefallen suhlen.
Vielleicht war es das Universum, das mich in diese Position gesetzt hat, damit ich etwas verändern kann - vielleicht war es purer Zufall - natürliche Fortpflanzung, Gott, Aliens - aber ich bin hier und ich bin dankbar.
Denn ein neues Jahr hat begonnen und ich bin am Leben.